
Helltürkise Herrenweste mit Tambourstickerei, um 1800, umgearbeitet als Kostüm im 20. Jahrhundert
© MAK/Branislav Djordjevic[/caption] Doch was macht Mode überhaupt modern? Betrachtet man die Geschichte der Mode, so scheinen der Erfolg und die Funktionalität von Kleidungsstücken nicht gerade in einem zwingenden Zusammenhang zu stehen. Ob es um das Einschnüren von weiblichen Taillen in stramme Korsetts bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts geht, oder um das Tragen von 20 Zentimeter hohen Pfennigabsätzen heute. Der Mode einen gewissen Hang zum Irrationalen zu attestieren, scheint also nicht abwegig. Eine Irrationalität, die Rudofsky in seiner Diagnose begründet sieht, der Mensch sei in seinem Wesen von tiefster Unzufriedenheit mit seinem eigenen Körper geprägt. Die Absurditäten der ständig wechselnden Moden seien somit also sein Werkzeug diesen darin zu verstecken oder ihm durch die Hülle der Kleidung eine neue Form zu verleihen. Und mit seiner harschen Kritik am „modesüchtigen“ Menschen hält Rudofsky keineswegs zurück, kaum ein gutes Haar lässt er an verschiedensten Erscheinungen des Modesystems und verschont kaum ein Kleidungsstück. Von der Frage der Notwendigkeit des Bedeckens des (meist weiblichen) Körpers und seiner Nacktheit, über dessen optische (und teils auch physische) Verformung, bis hin zum Zweifel an der Sinnhaftigkeit von Schnittkonstruktionen und dem damit einhergehenden massenhaften Materialverbrauch. [caption id="attachment_12601" align="alignnone" width="840"]

Damenbluse aus schwarzer Chantillyspitze über beigem Seidenfutter, alle Nähte von Hand genäht, um 1940
© MAK/Branislav Djordjevic[/caption] Doch wie würde sie aussehen, eine Mode, die keine Mode ist? Eine Mode, die sich solch irrationalen Konventionen nicht einfach unterwirft? „It is much easier to say what dress should not be than to tell what it should be”, gab selbst Rudofsky zu. Für ihn liegt aber die Lösung im Flächenschnitt, dem Kleidungsstück, das aus möglichst nur einem zusammenhängendem Stück Stoff gefertigt ist: Dieser vermeide beispielsweise komplizierte Schnittkonstruktionen, er würde sich besonders gut an die verschiedenen Körpermaße der Tragenden anpassen (also quasi ein One-Size-Fits-All Kleidungsstück) und auch in der Lagerung wäre er aufgrund seiner Zweidimensionalität besonders vorteilhaft. Rudofskys durch und durch kritische Einstellung dem Prinzip Mode gegenüber kann letztlich als eine Art Anti-Mode verstanden werden, dekonstruiert er schließlich beinahe all ihre Bestandteile auf die Frage nach ihrer Sinnhaftigkeit hin. Ist Mode also erst dann wirklich modern, wenn sie sich entgegen jeglichen konventionellen Verständnisses von Mode stellt? Spätestens in den 90er Jahren fand der Begriff der Anti-Mode noch einmal ganz neue Relevanz, als sich Avant-Garde-Designer*innen wie Rei Kawakubo mit Comme des Garçons, Yohji Yamamoto oder Martin Margiela mit ihren zum Teil düsteren, dekonstruierten und skulpturalen Entwürfen gegen den schimmernden, glamourösen Mode-Zeitgeist der Supermodel-Dekade stellten. Kleider, dessen Silhouetten beinahe völlig von jeglicher Form des in ihr liegenden Körpers abwichen, beinahe geschwürartige textile Ausformungen und zusätzliche Ärmel aufwiesen, Masken, die die Gesichter der Models gänzlich verdeckten und auf links getragene Kleidungsstücke, die sämtliche Nähte und Futter offenlegten. [caption id="attachment_12603" align="alignnone" width="840"]

© MAK/Branislav Djordjevic[/caption] Auf den ersten Blick scheinen diese Anti-Moden nur schwer miteinander vereinbar, hätten die avantgardistischen Entwürfe der 90er wohl kaum einer Vorstellung Rudofskys von körpergerechter und rationaler Mode entsprochen. Schaut man aber genauer hin, liegen Rudofksys Theorien und folgend auch seinen Entwürfen dieselben Fragestellungen zu Grunde, die auch Kawakubo, Margiela und Co. mit ihren Kollektionen aufwarfen: Was ist Mode überhaupt? Was ist ihr eigentliches Wesen, ihr Sinn und Zweck? Welchen Regeln ist sie untergeordnet und inwiefern sind diese überhaupt sinnvoll? Wo fängt Mode an und wo hört sie auf? [caption id="attachment_12600" align="alignnone" width="699"]

Damenkleid, genäht aus einem Textil der Firma Apsco Fabrics, 1960er
© MAK/Branislav Djordjevic[/caption] Letztlich treibt Rudofsky vielleicht einfach den Begriff des Modebewusstseins auf die Spitze. Es geht um einen bewussten Umgang mit Mode, das Bewusstmachen der Sinnhaftigkeit in Bekleidung und ein Bewusstwerden der Sinnlosigkeit so mancher Kleidungskonventionen. Es ist ein Aufruf zu einem kritischeren und bewussteren Umgang mit Mode und all ihren Auswüchsen, der auch bis heute nicht an Relevanz verloren hat. Im Gegenteil sogar, betrachtet man etwa Aspekte der Nachhaltigkeit in einem Modesystem von solch rasender, beinahe exponentiell steigender Geschwindigkeit, könnte die Frage „Are clothes modern?“ wohl kaum aktueller, ja moderner sein. Ein Beitrag von Sophia Schünemann Dieser Text entstand im Rahmen der von Lara Steinhäußer, Kustodin der MAK Sammlung Textilien und Teppiche, geleiteten Lehrveranstaltung „Architektur und Mode“ im Wintersemester 2022/23 am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. Sie behandelte die theoretischen Grundlagen und künstlerischen Positionen zum Thema von Mitte des 19. bis Mitte des 20. Jahrhunderts und gewährte auch Einblick in den Arbeitsalltag einer Kuratorin. Ein weiterer Blogbeitrag zum Thema der Lehrveranstaltung erschien am 23. Februar 2023. Die Ausstellung SAMMELN IM FOKUS 10: Textile Objekte aus dem Besitz von Berta und Bernard Rudofsky wird von 4. Oktober bis 26. November 2023 im MAK Forum zu sehen sein.